Dienstag, 9. September 2008

Die Leser, die ich rief . . .

. . . werde ich unter Umständen genauso schwer wieder los wie der Zauberlehrling die von ihm gerufenen Geister. Nein, es geht zur Abwechslung einmal nicht um Bussi-Beck, sondern um eine Posse aus meiner Heimatstadt (die nicht Schilda heißt). Die hohe Kunst des Lokaljournalismus besteht bekanntlich darin, gute Geschichten erstmal zu finden; wenn sich diese dann auch noch über Wochen hinweg weiterstricken lassen, rückt der Reporter in die Champions-League der Lokalzeitungsmacher auf. Für den nüchternen Betrachter bietet sich indes vor allem eines: Ein Blick in die Abgründe historischer Unbelecktheit des durchschnittlichen Provinzblatt-Lesers.

Was war geschehen? Es gibt hier einen Platz mit dem schönen Namen "Friedensplatz". Auf dem steht eine Säule. Und auf dieser steht - nichts. Denn der "Friedensengel", der die Spitze der Säule dereinst zierte (s. Bild), wurde 1943 von seinem Sockel geholt und zu Granaten für Hitlers Armeen eingeschmolzen. Sicherlich ein Karriereknick für einen Friedensengel - wenn es sich denn unzweifelhaft um einen gehandelt hätte. Was nicht der Fall war.

Denn errichtet wurde das ganze Teil 1878, und damals hatte man noch andere Vorstellungen von Frieden. Dementsprechend handelte es sich hierbei auch um nicht um einen Engel, sondern um die Siegesgöttin Viktoria, die mit entschlossen in die Lüfte gerecktem Lorbeerkranz düster in Richtung des sieben Jahre zuvor niedergekämpften Frankreichs blickte. An diesen Sieg sollte die Figur im Hemdchen erinnern. Der Krieg von 1870/71 forderte, nebenbei gesagt, eine sechsstellige Zahl von Todesopfern; deutsche Truppen belagerten und beschossen Paris mehrere Monate lang. Friedfertigkeit à la Kaiserreich: Frieden durch Sieg!

Möchtegern-Engel Vicky hat also ihr verdientes Schicksal erhalten, als sie im Alter von 65 Jahren nicht in den Ruhestand geschickt, sondern für Führer, Volk und Vaterland in den Schmelzofen geschoben wurde. Aber das ficht einen wack'ren Oldenburger nicht an. In diesem Falle fühlte sich ein 87-jähriger Bürger, der die bronzene Dame noch persönlich kannte, bemüßigt, die Aufstellung eines neuen "Friedensengels" zu fordern. "Parteiideologische Gründe" seien es, die eine längst fällige (und vor 22 Jahren schon mal diskutierte) Reinkarnation der Figur verhinderten - welche Partei und welche Ideologie, verrät er nicht; es ist auf jeden Fall wohl nicht seine. Inspiriert zu seiner Schnapsidee wurde der Mann übrigens durch den Auftritt Barack Obamas vor der Berliner Goldelse - auch so ein chauvinistisches Machwerk, denn sie stellt gleichfalls Viktoria dar und erinnert ebenso an die preußischen Kriege.

Den Leserbriefschreibern ist's wurscht: Sie bezeichnen die Figur unbeirrt als "Engel" und stimmen unisono in die Forderung nach Wiederaufstellung ein. Unfassbar schwachsinnige Argumentationsstränge werden in die Debatte eingebracht: Ohne "Engel" dürfe der Platz auch nicht mehr "Friedensplatz" heißen; der "zerstrittene Rat der Stadt könnte einen Engel gebrauchen", versucht sich eine Leserin vergeblich in Wortwitz; mit einer neuen Statue kann man es den Nazis mal so richtig zeigen und, und, und. Einer schlägt sogar vor, Vertreter der französischen Partnerstadt zur Einweihung einzuladen. Na, die werden sicher Verständnis dafür haben, wenn ihre deutschen Freunde im Jahr 2008 eine Siegesgöttin zur Erinnerung an den Krieg 1870/71 aufstellen. Bestimmt werden sie vor Begeisterung platzen.

Das hat man nun davon, wenn man in tiefster Sommerloch-Verzweiflung ein solches Thema anschiebt. Überall suhlt man sich in absoluter historischer Ahnungslosigkeit und kräht nach einer eigenen Goldelse - je ungebildeter, desto lauter und aggressiver.

Ein Blick in ein Geschichtsbuch ist manchmal hilfreich. Notfalls sogar die Wikipedia. Aber das ist ja viel zu anstrengend. Setzen - Sechs!

2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Die NWZ gehört auch zu den Käseblättern, die definitiv von der Pressefreiheit ausgenommen gehören.

juwi hat gesagt…

zum Totlachen!

Wenn nur nicht so ein ernster Hintergrund mit unzähligen Toten dahinter lauern würde ...

Und da bleibt einem denn auch das Lachen gleich wieder im Halse stecken!

Nur eine Provinzposse? Ich glaube nicht: Das ist nämlich der Stoff, aus dem auch heute noch Menschenmaterial für den Krieg gewonnen wird.