Mittwoch, 25. September 2013

Knapp vorbei ist auch daneben

Es ist ja immer dasselbe nach durchzechten Nächten: Wenn man versucht, nach ein paar Stunden Schlaf aufzustehen, schlägt der Kater mit voller Wucht durch. So ähnlich wird es den Konservativen im Land gehen: Gerade erst den Schampuspelz nach zwei Tagen Dauerfeiern von den Zähnen gebürstet, zwei Aspirin eingeworfen und drei Tassen Kaffee intus, dürften sie langsam merke(l)n, dass ihr ach so grandioser Wahlerfolg eigentlich ein Pyrrhussieg ist.


Ja, es war ein deutlicher Wahlerfolg, und ja, es ist ein Regierungsauftrag der Wähler an die Union ergangen. Das zusehends nervige "knapp an der absoluten Mehrheit vorbei"-Gerede darf jetzt aber auch gerne wieder eingestellt werden - die parlamentarische absolute Mehrheit nach Sitzen ist bekanntlich Ergebnis eines Rechenprozesses; keineswegs haben fast 50 Prozent der Wähler ihr Kreuz bei der Union gesetzt, es sind nach wie vor bloß 41,5. Immer noch viel, aber eben auch nicht so viel. Dies sei vorangestellt.


Und trotz des knappen Vorbeischlitterns an der uneingeschränkten Herrschaft des Konservatismus findet sich die Union in einer gar nicht mal so tollen Lage wieder. Denn ungeachtet der überwältigenden Stärke ihrer Fraktion braucht sie einen Koalitionspartner, um regieren zu können - und der handzahmste und aus ihrer Sicht verlässlichste ist ihnen gerade spektakulär abhanden gekommen. Wir wollen an dieser Stelle die paar Gelegenheiten, bei denen die FDP hier und da Sand ins Koalitionsgetriebe geschüttet hat, außen vor lassen - im Wesentlichen lief es in den vergangenen vier Jahren glatt für Schwarz/Gelb. Die inhaltlichen Überschneidungen zwischen Christdemokraten und Liberalen waren stets groß genug für die neoliberale Grundlinie des Kabinetts Merkel II.

Anders in der nun folgenden Legislaturperiode. Jede der beiden denkbaren Partner - die Linke fällt ja von vornherein aus diesem Gedankenspiel heraus - ist, ganz unabhängig der eigenen Stimmenzahl, in der Lage, der Union schmerzhafte Zugeständnisse abzupressen. Merkel ist, aus ihrer Perspektive betrachtet, durch das Ergebnis zur Wahl zwischen Not und Elend gezwungen: Koaliere ich jetzt mit der Partei, die einen gesetzlichen Mindestlohn fordert, oder lieber mit der Partei, die einen gesetzlichen Mindestlohn fordert? Tue ich mich mit denen zusammen, die eine höhere Besteuerung für Reiche fordern, oder lieber mit jenen, die genau dasselbe wollen?

Und vor allem: Hätte ich den schwächelnden und selbst nichts zustande kriegenden FDP-Milchbubis nicht vielleicht doch mit ein paar Zweitstimmen über den Berg helfen sollen, dann gäbe es dieses Problem jetzt nämlich nicht?

Agieren SPD und Grüne in den nun anstehenden Gesprächen auch nur halbwegs geschickt, können sie sich ein Maximum an Entgegenkommen von Seiten der Union erhandeln. Sie könnten sich sogar heimlich absprechen, um ihre Forderungen in den vermutlich parallel laufenden Pokerrunden gegenseitig zu stützen - das würde natürlich voraussetzen, dass die Parteigranden die programmatischen Inhalte höher bewerten als die bloße Machtoption, und das halte ich für eher fraglich. Dennoch: Mit schlauem Taktieren lässt sich viel rausholen.

Merkel, auf der anderen Seite, ist allerdings auch nicht doof. Sie wird versuchen, SPD und Grüne gegeneinander auszuspielen, und angesichts ihrer unzweifelhaften Fähigkeiten auf diesem Gebiet schätze ich, dass sie damit Erfolg haben könnte. Ach, wie gerne wäre ich in den kommenden Wochen Mäuschen in den Hinterzimmern des Reichstags, der Fraktionsbüros und des Kanzleramts. Vermutlich wird sich die SPD letzten Endes wieder über den Tisch ziehen lassen, weil ihr das Mitspielendürfen bei der Regierung stets wichtiger war als dieser ganze sozialpolitische Tinnef - aber zumindest bis dahin dürften es spannende Gespräche sein.

Pyrrhus I., König der Molosser, gewann im dritten vorchristlichen Jahrhundert mehrere Schlachten gegen die Römer, erlitt dabei aber so große Verluste, dass er am Ende den Krieg verlor. Ähnliches könnte mittelfristig der Union blühen. Denn trotz des beeindruckenden Siegs gibt es im Parlament eine linke Mehrheit, keine rechte - ich bin heute mal so großzügig, die Sozialdemokraten in diesem Zusammenhang eher links der Mitte zu verorten, was sie streng genommen nicht verdient haben, aber egal. Diese Mehrheit lässt bereits jetzt ihre Muskeln spielen und denkt laut darüber nach, noch vor einer Regierungsbildung schnell den Mindestlohn einfach zu beschließen. Dafür braucht sie die Union nicht, und geklappt hat das auch schon mal - in Hessen bei der Abschaffung der Studiengebühr nämlich.

Sollte es tatsächlich dazu kommen, wäre dies - und nicht die 40+ Prozent der Union - ein Ergebnis, das die Bundestagswahl 2013 endgültig in historische Dimensionen katapultiert. Nicht wegen des Themas Mindestlohn, sondern wegen der ersten konstruktiven und folgenreichen rot-rot-grünen Zusammenarbeit auf Bundesebene. Klappt das, können SPD und Grüne bei der kommenden Wahl kaum mehr ihr ohnehin reichlich abgedroschenes Argument aufwärmen, die Linke sei nicht regierungsfähig und mit ihr könne man nicht zusammenarbeiten. Dann gäbe es 2017 endlich eine realistische Gegenoption zu Merkel, zur Union und letztlich zum schon beinahe zur Staatsräson erhobenen Konservatismus im Land.

Dem politischen System und der demokratischen Kultur würde das nur gut tun.

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